Khom – Märchen

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Eines der Stilmittel, deren Wirkmacht selbst mich als SL überrascht hatte, waren Märchen. Im Grunde hätte es mich nicht erstaunen sollen. Geschichten sind ein Teil von uns Menschen. Seit Urzeiten verpackt die Menschheit ihre Botschaften darin, weil sie sich so viel einfacher weitergeben und verbreiten lassen. Unser Hobby Rollenspiel besteht im Kern genau darin: Wir treffen uns, um gemeinsam eine Geschichte zu erzählen.

Wir Menschen scheinen irgendwie auf Geschichten geeicht zu sein.

Die Art und Weise, wie eine solche Geschichte nun erzählt wird, kann viel subtile Information transportieren, die man als SL ansonsten wohl nie an die Spieler*innen gebracht hätte. Es gibt tief in uns womöglich einen Mechanismus, der die Struktur und Verknüpfungen in einer solchen Geschichte entdeckt und uns unbewusst zur Verfügung stellt. Kontextinformation, die uns etwas leichter nachvollziehen lässt, wie es sich in einem bestimmten Setting bewegen lässt.

Konkret habe ich dazu Märchen verwendet, die meinen SCs zu verschiedenen Zeitpunkten begegnet sind. Gelegenheiten dazu gibt es viele: Auf jedem größeren Basar ist ein Haimamud zu Hause. Unter den Bediensteten der reichen Familien erzählt man sie sich. Eine meiner SCs war eine Hexe mit einem holzgebundenen Buch, das ihr als Flughilfe diente. Du darfst drei mal raten, was sich darin geschrieben fand.

Eines der Märchen, das mir gute Dienste geleistet hat, ist das (selbstverfasste) vom Drakor Angrû’acha al’Noun und der Kanope der sechs Djinni:

Vor vielen, vielen Jahren lebte in der Oase Tarfui ein Stamm der Beni Novad, deren Herden waren groß, die Felder reich an Hirse und die Haine voll Datteln und Feigen. Man sagte zu jener Zeit, nirgends seien die Krieger mutiger, die Rösser stolzer und die Frauen anmutiger gewesen. Über allem herrschte der weise und gerechte Sheik Ahmed al’Mosja, und man munkelte seine Schätze hätten einen Vergleich mit denen des Sultans von Mherwed nicht scheuen müssen.

Doch eines Tages, zur Zeit des Winterregens, legte sich ein gewaltiger Schatten über den prächtigen Funduq und mit mächtigem Flügelschlag ließ sich ein Drakor auf dem Dach nieder, dass zu allen Seiten die Lehmziegel davon flogen und die Mauern knirschten. „Ich bin Angrû’acha al’Noun, die prächtige Flamme der Dämmerung“ sprach der Schlangenleibige und sein fast schwarzes Schuppenkleid verschluckte beinahe jeden von Rastullahs Sonnenstrahlen. „Lange bevor ihr Menschen hierher kamt, war dies bereits mein Land. Ab dem heutigen Tage werdet ihr mir Tribut bezahlen, oder ich werde euch alle mitsamt Tieren und Feldern zu Asche verbrennen und in der Wüste verteilen.“

Die Menschen weinten und zeterten, doch der unerschrockene Scheik Ahmed sprach: „So sag, oh mächtiger Drakor, mit was sollen wir den Tribut bezahlen?“

„Dein Gold und Silber ist es, nach dem mir gelüstet, Menschling. Es soll künftig nur noch meinen Hort schmücken“, antwortete die Echse und so geschah es.

Ab jenem Tag erschien der Drakor jeden Abend, und jedes Mal besänftigte der gütige Ahmed al’Mosja den Drakor mit Geschmeide, denn wenig lag ihm an seinen Schätzen solange sein Stamm in Frieden leben konnte. Doch nach einem Jahr waren selbst die reichhaltigen Schätze des Scheiks verbraucht und der kühne Ahmed al’Mosja sprach: „So sag, oh mächtiger Drakor, mit was sollen wir nun den Tribut bezahlen?“

„Dein Vieh ist es, nach dem mir gelüstet, Menschling. Es soll künftig nur noch meinen Hunger stillen“, antwortete die Echse und so geschah es.

Ab jenem Tag erschien der Drakor jeden Abend, und jedes Mal besänftigte der gütige Ahmed al’Mosja den Drakor mit einem Tier aus seiner Herde, denn wenig lag ihm an seiner Herde, solange sein Stamm in Frieden leben konnte. Doch nach einem Jahr waren selbst die zahlreichen Tiere des Scheiks verbraucht und der unerschrockene Ahmed al’Mosja sprach: „So sag, oh mächtiger Drakor, mit was sollen wir nun den Tribut zahlen?“

„Deine jüngste Tochter ist es, nach der es mir gelüstet, Menschling. Sie soll künftig nur noch für mich tanzen“, antwortete die Echse und so geschah es.

Der Drakor nahm die Tochter des Scheiks mit sich fort und diesem wurde gram ums Herz. Doch ließ er es geschehen, damit sein Stamm in Frieden leben konnte. In seiner Verzweiflung rief er zu Rastullah und flehte um Rat. Rastullah sprach: „Sende Abdullah, deinen erstgeborenen Sohn, nach Khunchom zu Sultan Sulman al’Nassori damit dieser dir und deinem Stamm helfe.“ Und so geschah es.

Neun mal Neun Tage verbrachte Abdullah auf seiner gefahrvollen Reise und überwand viele Hindernisse. Schließlich stand er vor Sulman al’Nassori, und der Sultan gab ihm eine prunkvolle Kanope und sprach: „In dieses Gefäß habe ich sechs mächtige Djinni gebannt. Je einen des Windes, Wassers, Sandes, Feuers, Eises und der Lebenskraft. In den Bergen südlich der Oase Tarfui gibt es ein Tal, das Wadi al’Mayy’Sill genannt wird. Darüber hat vor langer Zeit der mächtige Um’Dracor im Auftrag Rastullahs einen Bannkreis gelegt, der unsagbar Böses in Ketten hält. Sobald du dem Drakor gegenüber stehst, zerschlage die Kanope und befehle den sechs Djinni, den Schlangenleibigen dorthin zu tragen. Von dort wird er nicht mehr fliehen können, denn der Bannkreis gesprochen von einem seiner eigenen Art wird auch ihn fesseln.“

Abdullah schickte sich an, zurück zu seinem Vater zu reisen, um das Geschenk und die Worte des Weisen zu überbringen. Auf der langen Reise jedoch keimte in ihm der Gedanke, die mächtige Kanope für andere Zwecke zu nutzen. Von Tag zu Tag berauschte er sich an dem Gedanken, welche Macht nun in seiner Hand lag und wozu er sie nutzen konnte. Als er schließlich Tarfui erreichte, stand sein Entschluss fest: Abdullah wollte versuchen, den Drakor zu überlisten, um ihn in das Wadi al’Mayy’Sill zu locken.

So kam es, dass sich der furchtlose Sohn des Scheiks vor der Höhle des mächtigen Wurms aufbaute und ihn zu einem Handel aufforderte: Die gefangene Schwester im Tausch gegen die machtvolle Kanope der sechs Djinni. Der Drakor verließ seinen Hort und seine Augen glitzerten vor Gier. Der listige Abdullah jedoch verbarg sich zwischen den Felsen und verhöhnte den Schlangenleibigen, so dass dieser blind vor Wut dem Menschen folgte. Drei mal drei Tage dauerte die Hatz bis Abdullah das Portal der geflügelten Schlangen durchschritt, den Drakor dicht hinter sich.

Als der kühne Abdullah jedoch ins Wadi al’Mayy’Sill vordrang, stieg ein heimtückischer Nebel vom See auf. Die Schwaden krochen an ihm empor, lähmten seinen Arm und verwirrten den Geist. Solcherart geschwächt, wurde der brave Abdullah ein Opfer des Drakor. Heimtückisch, wie es die Art der Schuppenleibigen ist, pirschte sich die Echse an und tötete den Sohn des Scheiks mit einem einzigen Hieb. Als sich der Drakor jedoch mit der Kanope, seinem neugewonnenen Schatz, in die Lüfte erheben wollte, ergriffen die Nebel auch ihn. Seit jenem Tag ist der Drakor Gefangener im Wadi al’Mayy’Sill und es heißt, wer ihm zu nahe kommt, den zwingt er unter seinen Bann, um ihn in die Tiefen des Sees zu ziehen.

Die Tochter des Scheiks aber war frei und kehrte zu ihrem Stamm zurück. Achmed al’Mosja vergoss Tränen der Freude, als er seine jüngste Tochter wieder in die Arme schließen durfte. Die Beni Novad von Tarfui waren von der Knechtschaft des Drakor befreit und bald sprach man wieder überall von ihren großen Herden, reichen Feldern und üppigen Hainen, denn Rastullah war mit ihnen.

Wer unter euch einigermaßen kundig in aventurischer Geschichte ist, mag es bereits erkannt haben: Die Geschichte ist voll von historischen Unstimmigkeiten, und es ist klar, dass es sich auf diese Weise niemals abgespielt haben kann. Das ist volle Absicht, damit meine Spieler*innen es spüren und als das einordnen konnten, was es ist: ein Märchen.

Dennoch – heißt es nicht, dass in jedem Märchen ein wahrer Kern steckt? In diesem Fall wollte ich es ebenso halten. Und ist es nicht allzu verführerisch an eine Kanope der sechs Djinni zu glauben, die im Wadi al’Mayy’Sill darauf wartet, gefunden und gegen die göttliche Unverwundbarkeit Tar Honaks eingesetzt zu werden?

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