Jede*r von uns kennt das: Man verfolgt die Geschichte eines Buchs, eines Films, eines Games, und glaubt, vorhersehen zu können, was als nächstes passiert – als plötzlich die Geschehnisse eine Wendung nehmen, die man auf keinen Fall erwartet hat. Wenn man ehrlich ist, dann sind solche Augenblicke doch das Salz in der Suppe. Das, auf was man gewartet hat. Das, was einem den besonderen Genuss beim Konsum dieser Geschichte bereitet.
Was aber, wenn diese Wendung vorhersehbar ist? Wenn sie langweilig ist, weil man sie erwartet hat und nicht mehr davon überrascht wird? Dann verliert dieser Augenblick einen Großteil seines Reizes oder verkehrt sich sogar ins Gegenteil.
Ich persönlich würde zwei Arten solcher Wendungen unterscheiden: Plotturn und Plottwist.
Viele mögen sich fragen, ob es dort überhaupt einen Unterschied gibt, für mich gibt es ihn, und ich habe immer versucht, diese beiden Begriffe zu verwenden, um sie zu trennen.
Plottwist
Hierunter würde ich die klassische Umkehrung eines Story-Elements verstehen. Den Moment, den die meisten vor ihrem inneren Auge sehen, wenn sie den Begriff Wendung hören. Der Moment, in dem sich herausstellt, dass eine Annahme, die man als Rezipient der Geschichte getroffen hat, nicht wahr ist.
Einige Klassiker, die unterschiedlich tief in die Geschichte eingreifen, je nachdem wie viel Prozent der Geschichte sie betreffen:
- Eine Person ist nicht, was sie scheint: Die Guten sind die Bösen oder umgekehrt. Der Mentor der Heldin ist in Wahrheit der Kriegsgott, den es zu bekämpfen gilt. Der liebe Onkel in Wahrheit der Schurke. Und der Bösewicht will in Wahrheit die Welt retten.
- Der Agent nimmt seine Gummimaske ab und es wird klar, dass es eine List war und man die letzten fünf Minuten des Films mit ganz anderen Augen sehen muss.
- Die Heldin lässt sich von den Bösen gefangen nehmen, weil sie die gesamte Menschheit mit ihrer „Magie“ miterleben lassen kann, wie sie gefoltert und getötet wird – wodurch klar wird, dass es die Bösen sind (was sie vorher erfolgreich versteckt haben).
- Der Held hat für die falsche Seite gearbeitet: Er erobert einen magischen Dolch aus einer feindlichen Stadt, nur um zu erkennen, dass seine Auftraggeber, noch Schlimmeres damit vorhaben. Jetzt muss er es zurückdrehen.
- Der Protagonist und Erzähler ist der Mörder (und hat einen Rezipienten als „Untreuer Erzähler“ aufs Glatteis geführt)! Und im Übrigen ist das Mordwerkzeug ein gläserner Dolch, der die ganze Zeit im Aquarium des Herrenhauses geschlummert hat.
Plotturn
Im Gegenzug dazu ist dieses Werkzeug weniger radikal. Es verändert nicht zwingend, was bereits geschehen ist. Es lässt vielmehr die Geschichte in eine unerwartete Richtung abbiegen. Je nachdem, wie scharf dieser Richtungswechsel ausgeführt wird, bekommen es manche Rezipienten vielleicht nicht einmal mit.
Auch hier wieder einige Klassiker, die illustrieren sollen, wie unterschiedlich und auf welchen Ebenen sie ausfallen können:
- Die Geschichte beginnt in einem geschlossenen Raum (Kloster, Schule, …) und spielt dort relative lange (mit all den dort entstehbaren Problemen und Plothooks), ehe sie plötzlich und restlos daraus ausbricht und in die freie Welt führt (mit völlig anderen Problemen und Plothooks), wo sie bis zu ihrem Ende verbleibt.
- Das Genre oder der Plot sind nicht, was sie zu sein scheinen. Es beginnt als klassischer Mordfall und entwickelt sich plötzlich zum Melodram. Anfangs geht es um die Freundschaft zwischen zwei Charakteren, später um knallharte Wirtschaftskriminalität. Die Schatzsuche der Archäologin entwickelt sich zum Vampir-Splatter. Die Zombies sind nicht wichtig in der Story, sondern nur Kulisse für einen Politthriller.
- Schauplatzwechsel: Es folgt ein unerwarteter Aufbruch ins ewige Eis, an Bord eines Schiffes, in die Tiefen einer Höhle, vom Dschungel in die Stadt oder umgekehrt. Oft verknüpft mit: „Rettet den McGuffin!“
- Es tauchen unerwartete Figuren auf. Aliens kommen vom Himmel, der totgeglaubte Erbonkel oder der unnahbare Kaiser treten in der tiefsten Provinz auf den Plan und verändern dadurch die Motivation und Ziele der Haupt- und Nebenfiguren. Im Leben der Protagonistin erscheint eine neue Liebe, der verlorene Sohn kehrt zurück.
Es gibt also aus meiner Sicht einen systematischen Unterschied zwischen diesen beiden Werkzeugen: Beim ersten wird etwas Bestehendes verdreht (deshalb Twist), beim zweiten etwas Unerwartetes ergänzt (deshalb Turn).
Und warum jetzt diese Trennung?
Unser Hauptproblem als Autor oder SL sind leider wieder einmal Konventionen. Die meisten von uns sind durch den Konsum von hunderten und tausenden von Geschichten darauf geeicht, mindestens einen Plottwist zu erwarten. Häufig ist es bereits so, dass dir im Kino deine Sitznachbar*in sogar vorhersagen kann, wie genau der Plottwist ausfallen wird. Denn schließlich muss dieser dramaturgisch vorbereitet werden – Kundige erkennen diese Zeichen und ziehen ihre Schlüsse.
Im Gegenzug dazu ist der Plotturn nicht ganz so leicht zu erraten (was in der Natur der Sache liegt), birgt aber eine andere Gefahr. Denn biege ich damit zu scharf ab, verliere ich vielleicht meine Rezipienten durch die Fliehkräfte in der Geschichte. Ob und wie gefesselt man einer Story folgt, hängt häufig damit zusammen, wie sehr es dieser gelingt, einen emotional zu involvieren. Ein Plotturn kann den einen noch mehr an mich binden, die andere wird durch den zu scharfen Richtungswechsel von Bord geschleudert.
Wenn man mich nach meinem ganz persönlichen Geschmack fragt, würde ich sagen, dass ich gut gemachte Plotturns mehr genieße, als die oft überstrapazierten Plottwists. Denn die Überraschungswahrscheinlichkeit beim Ersteren ist höher als beim Zweiten. Auf jeden Fall finde ich es wert, beim Verfassen einer Geschichte (ob als SL oder als Autor) kurz innezuhalten und die Entscheidung für das eine oder andere bewusst zu treffen.
Wie ist das bei euch? Welches begeistert euch mehr? Gibt es Beispiele für das eine oder andere, die zu euren Favorites zählen? Ich wäre gespannt.