Jenseits der Brandung – Cover 2.0

Erst laut gackern und dann ewig auf das Ei warten lassen. Ja ja, ist schon gut, wir schämen uns schon. Zumindest ein bisschen. Denn dass sich die Veröffentlichung von Jenseits der Brandung so lange hinauszögert, hat einen guten Grund.

Vielleicht kennt ihr das: Man ist fast fertig mit einem Werk, aber irgendwie will sich die Zufriedenheit über das Erreichte nicht so recht einstellen. Dennis und mir ging es genau so. Ein unbestimmtes Bauchgefühl sagte uns, dass der bisherige Coverentwurf noch kein Volltreffer war. Dass etwas fehlt.

Angefangen hat es damit, dass Dennis sogenannte value-Studien unternommen und sie mir vorgestellt hat. Ihn trieb das Gefühl um, dass der alte Coverentwurf nicht genug Tiefe aufweist, dass eine Spannung und Flussrichtung im Bild fehlt, die die Betrachter*innen emotional einfängt. Gut, aber was zum Kuckuck ist eine value-Studie?

Eine value-Studie verwendet nur Schwarz-, Weiß- und Grautöne, um Kontrast, Übergänge und Tiefe in einer Illustration zu untersuchen. Sie verschafft dem Illustrator ein frühes Gefühl davon, wie sein Bild wirkt, bevor er Detaillierung und Farben ergänzt. So weit, so einfach: Ein Bild, das in groben Schemen und in Grauschattierungen wirkt, wird das erst Recht mit ausreichender Detaillierung tun – so die Theorie. Vielleicht versteht ihr, was ich meine, wenn ihr die folgenden Studien betrachtet.

Value-Paint Skizzen für Jenseits der Brandung
Ausgewählte Studie mit Markierungen für Schriftzüge

Auch wenn ich mir als Autor vorher nicht darüber bewusst war, so haben diese Studien mich doch über einen weiteren wichtige Aspekt nachdenken lassen. Meine Markenidentität. Marken…was?, werdet ihr fragen. Identität. Das, was mich als Autor ausmacht. Wofür ich stehen möchte. Was den Kern meiner Geschichten bildet.

Mir ging und geht es beim Schreiben vor allem um den Sense of Wonder. Um den Geschmack dieser fremden Welt, in die uns Fantasy und Science Fiction entführen. Ich will miterleben, wie die Protagonist*innen in meinen Büchern leben, leiden, lieben. Ihren staunenden Blick auf ihre eigene, überwältigende Welt am eigenen Leib erfahren. Ich will erahnen können, dass es hinter dem Horizont noch viel mehr zu bestaunen gibt, etwas, das ich durch den Nebel schimmern sehen kann, selbst wenn dieser die genauen Umrisse dessen verhüllt, was dort auf mich wartet.

Und in jenem Gespräch mit Dennis wurde mir klar, dass – wenn ich meiner Markenidentität treu bleiben will – ich das Cover auf die selbe Art und Weise auswählen muss, wie ich schreibe: mit dem Gefühl.

Also, ja. Laut gegackert und dann lange auf das Ei warten lassen. Ich für meinen Teil aber denke, dass sich das Warten fürs Erste gelohnt hat.

Colorierter Coverentwurf nahe an der Vollendung

Sonnenstahl

von Benjamin Hirth

Meister Zephyr lächelte sein liebenswürdigstes, zahnloses Lächeln. „Komm näher mein Junge“, säuselte er. „Was siehst du?“
Daren wischte sich den Schweiß von der Stirn, der ihm in die Augen lief und darin brannte wie Feuer. Kein Wunder: Das Kohlefeuer, um das er sich die letzte Stunde gekümmert hatte, hatte ihn derart mit Ruß überzogen, dass ihn seine eigene Mutter nicht wiedererkannt hätte. Falls er eine besessen hätte, wohlgemerkt.
„Nun?“, bohrte Zephyr nach.
„Rot?“, riet Daren aufs Geratewohl. „Der Stahl glüht rot.“
Der alte Schmied ruderte mit der freien Hand, um den Jungen dazu zu bewegen mehr Wörter auszuspucken.
„Ich … ich sehe die Schichten“, stammelte Daren. „Hier kann man die Ränder erahnen. Eine, zwei, drei… diese noch, und mit dieser sind es fünf insgesamt.“ Er schielte zu Zephyr hinauf und blies die Backen auf.
„Richtig“, sagte der Schmied. „Und was siehst du nicht?“
Daren widerstand dem Drang, mit den Schultern zu zucken. Stattdessen blies er lautlos die Luft aus den Backen.
„Dann komm noch ein Stück näher zu mir“, säuselte Zephyr, „damit ich es dir zeigen kann.“
Der Junge wusste nicht ansatzweise, was sein Meister meinte, also trat er einen weiteren Schritt auf diesen zu, den Blick erwartungsvoll auf das Stück Metall gerichtet.
Patsch. Zephyrs Hand schlug flach auf Darens Stirn ein.
„Du siehst kein Orange, du Dummkopf!“ Noch ein Schlag. „Kein Gelb!“ Ein Dritter. „Geschweige denn Weiß! Wie soll ich die verdammten Lagen sauber miteinander verschweißen, wenn das Feuer nicht heiß genug ist?“
Daren taumelte zurück und betastete seine brennende Stirn. Zum Glück hielt Zephyr den Stahl weiter mit der Zange ins Feuer der Esse, anstatt womöglich damit auf ihn einzudringen.
„Schwing deinen faulen Arsch und bring den Blasebalg zum Laufen!“, brüllte der Schmied ihm hinterher. „Bevor die Kohle ganz heruntergebrannt ist. Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, an solch eine Menge Bergwerkskohle zu kommen und wie viele Männer ich dafür bestechen musste?“
Hektisch lief Daren in den hinteren Teil der Schmiede, dort wo das spärliche Licht aus den schmalen Fenstern kaum hingelangte, und zerrte den zweiten, größeren Blasebalg hervor. Was meinte Zephyr eigentlich, womit er die gesamte letzte Stunde zugange gewesen war? Warum hatte der Meister ihm nicht gleich gesagt, dass der kleine Blasebalg nicht ausreichend Luft liefern würde, um die Temperatur zu erreichen, die es brauchte?
„Bei allen fünf Höllenhunden!“, rief der Schmied. „Mach ein bisschen schneller und lass dir das eine Lehre sein.“
Oh ja, das würde er. Keine halbe Stunde später glühte der Stahlbarren weißgelb, während Zephyr ihn mit mächtigen Schlägen auf seinem Amboss malträtierte, dass die Funken zu Boden flogen.
„Geh und hol dir einen Schluck Wasser, Junge“, rief ihm der Schmied zwischen den Hammerschlägen zu. „Bevor du mir wegen Überhitzung umfällst. Ich brauche dich gleich.“
Das Wasser war eine Wohltat. Daren hatte gar nicht bemerkt, wie durstig er gewesen war. Er nutzte den Augenblick, um hinaus in die Fiebersümpfe zu lauschen. Es war still, so still, dass er seinen eigenen Herzschlag hörte. Das war das Gute am Sumpf. Im Grunde war es immer still. Das Schlechte am Sumpf war es allerdings auch. Denn damit gab es nichts, was seine inneren Dämonen übertönte. Und davon hatte Daren genug.
Leider bemerkte Zephyr viel zu rasch, dass sich sein Lehrling gerade erholte. „Steh nicht so faul herum, du Drückeberger!“, plärrte der Meister zu ihm herüber. „Komm her, ich brauche dich jetzt!“
Das Werkstück in der Kohleesse hatte in der Zwischenzeit eine beträchtliche Länge gewonnen. Es fehlte nicht mehr viel zur fertigen Klinge. Eines musste man dem Alten lassen. Schmieden konnte er wie kein Zweiter. Trotzdem war er ein Arschloch.
„Hier“, sagte Zephyr und drückte seinem Schüler die Zange in die Hand. „Ich will dass du es mir auf den Amboss legst. Erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Rasch, ehe es wieder zu heiß wird.“
Daren packte das Stück glühenden Stahl mit der Zange und wuchtete es hinüber auf den Amboss.
„Der Länge nach“, dirigierte sein Meister. „Ja. So ist es richtig. Und nun sieh zu und lerne!“ Zephyr nahm Hammer und Meißel und hieb mit der Spitze eine Kerbe in den Stahl, als wolle er ihn in der Mitte spalten. Hatte den Alten endgültig der Wahn gepackt?
„Sieh mich nicht so an, Dummkopf! Ich weiß, was ich tue. Schon mal was von Gärbstahl gehört? Umdrehen.“
Daren schüttelte stumm den Kopf.
Zephyr schnaubte. „Warum gebe ich mich nur mit dir ab, Junge? Umdrehen habe ich gesagt! Los, bevor der Stahl zu kalt wird.“
Rasch tat Daren wie ihm geheißen und mit wenigen geschickten Hammerschlägen bog Zephyr die eine Hälfte des Werkstücks um und flach auf die andere. „So“, nickte er zufrieden. „Und jetzt zurück ins Feuer, bis beides wieder miteinander verschweißt ist. Bring mir auch einen Schluck Wasser. Und feuchte Tücher. Na los doch! Wird’s bald?“
Als sie beide mit Trinkbechern und den besagten Tüchern im Nacken neben der Esse standen, legte Zephyr eine Hand auf Darens Schulter. Die Hände des Schmieds waren riesig und so voller Narben und Schwielen, dass sie eher an Baumrinde als an Haut erinnerten.
„Also Junge. Gärbstahl. Nachdem wir nun einmal in diesen Zeiten leben, kannst du dich auf die Qualität des Stahls nicht mehr verlassen, den du zwischen die Finger bekommst. Stattdessen musst du dankbar sein, dass es überhaupt genug für eine Klinge ist.“
Daren nickte stumm. Er hatte gelernt, dass es in solchen Augenblicken besser war zu schweigen und Zephyr nur zuzuhören, während das Wissen seines Handwerks aus dem Alten hervor sprudelte.
„Deshalb verwenden wir Fünflagenstahl, den wir falten, um die harten und weichen Bestandteile der verschiedenen Metalle zu vermischen. So stellen wir sicher, dass wir eine Klinge erhalten, die sowohl hart genug ist, um eine scharfe und haltbare Schneide zu besitzen, aber weich und biegsam genug, um nicht bei der erstbesten Gelegenheit in Stückchen zu zerbrechen. Verstanden?“
Daren nickte wieder. Und wie er verstanden hatte. Er hatte alles, was ihm Zephyr in den letzten Monaten gezeigt hatte, aufgesaugt wie ein Tuch den Schweiß. Das Leben, das er zuvor geführt hatte, hatte ihn gelehrt, dass Klingen zu schwingen eine törichte, weil viel zu oft tödliche Idee war, die dennoch immer wieder genug Narren in den Sinn kam. Klingen zu schmieden jedoch …
Zephyr nahm seine Hand von der Schulter des Jungen und trat zum Fenster, um einen Blick auf die Sümpfe und die Aschewolken am Himmel zu werfen. Seine Miene nahm einen sorgenvollen Ausdruck an, während er gedankenverloren einen Funken löschte, der sich in seinen Bart verirrt hatte.
„Genug ausgeruht, Daren. Zurück an den Blasebalg. Wir brauchen Weißglut, damit die Lagen fehlerfrei miteinander verschweißen.“
Der Junge stutzte. Hatte der Alte ihn tatsächlich gerade beim Namen genannt? Etwas musste ihn beschäftigen, wenn er sich so wenig Mühe gab, seinen Lehrling zu herunter zu putzen. Leider war die Arbeit am Blasebalg deshalb trotzdem nicht einen deut besser als zuvor. Daren keuchte und schwitzte, bis der Schmied endlich den Barren aus dem Feuer nahm und erneut mit wuchtigen Schlägen in Form brachte.
Als der Junge die Esse umrundet hatte, hatte Zephyr den Barren bereits auf die Länge seines Unterarms gebracht und formte die Spitze aus. Ein paar Schläge, dann hob der Schmied sein Werkstück am Erl schräg in die Höhe, um zu untersuchen, ob es gerade und gleichmäßig war. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Der Alte arbeitete immer perfekt. Daren fragte sich, ob er selbst eines Tages den Hammer mit ebensolcher Präzision würde schwingen können.
Zephyr legte die Klinge auf dem Amboss ab und wischte den Ruß seiner Hände am Bart ab. „So“, grinste er sein zahnloses Grinsen, auch wenn es diesmal eher grimmig ausfiel. „Ab jetzt beginnt die eigentliche Arbeit.“
Der Alte humpelte zu einer Kiste, die zwischen anderen im Halbdunkel stand und kramte eine halbe Ewigkeit darin herum. Irgendwann holte er ein längliches Bündel, eingeschlagen in grobes Tuch, hervor und legte es auf der Bank neben dem Amboss ab, als wäre es zerbrechlich.
Als Zepyr das Tuch aufschlug, vergaß Daren beinahe zu atmen.
„Na immerhin weißt du, was das hier ist“, lachte der Alte grimmig.
„Gold“, stöhnte der Junge. „Es ist Gold!“
In dem Bündel lagen zwei Gegenstände. Ein schlanker Stab aus Gold, nicht einmal so dick wie Darens kleiner Finger, doch dafür so lang wie sein Unterarm. Und ein Messer mit konkaver Klinge, die nicht einmal so lang war, wie sein Daumen. Eine goldene Linie wand sich spiralförmig darin.
Wieder das zahnlose Grinsen. Der Schmied griff den goldenen Stab und das Messer mit etwas, das an Ehrfurcht erinnerte – hätte der Junge nicht gewusst, dass solche Gefühle für den Alten nahezu ausgeschlossen waren.
„So, Daren“, sagte Meister Zephyr. „Sieh gut hin, denn nun beginnt das wahre Handwerk.“
Der Junge versuchte, sich wieder ans Atmen zu erinnern. „Aber das ist…“, stammelte er. „Wie seid Ihr…? Ich meine, habt ihr keine Angst vor Erg…“
„Schweig still!“, herrschte ihn der Alte an. „Oder willst du ihn auf unsere Spur bringen? Natürlich weiß der alte Geier nicht, dass ich es habe, sonst wäre ich womöglich längst tot.“
Der Schmied packte sich das Messer und hob es andächtig in die Höhe. Mit einem schnellen Schnitt zog er es über seinen Daumen, so dass tröpfchenweise Blut hervortrat. „Wenn du eines der fünf verbotenen Metalle schmieden willst, Daren, dann musst du dies mit deinem Blut tun.“
Er legte das Messer wieder beiseite und beschmierte den Goldstab mit seinem Daumen, bis ein glänzender Film darauf lag. Irgendwann nickte er zufrieden, legte ihn beiseite und ließ weiteres Blut auf seine heiße Klinge herabtropfen, wo es zischend verdampfte.
„Ein Stück Tuch!“, rief er dem Jungen zu, „Bring mir ein Stück Tuch. Rasch!“
Daren, der sich dabei ertappte, wie er die ganze Zeit mit offenem Mund seinen Meister angestarrt hatte, riss sich von dem Anblick los und eilte davon.
„Sauber, versteht sich! Ich will mir keinen Brand einfangen“, rief ihm Zephyr hinterher.
Daren fand ein sauberes Stück Stoff und hastete zurück. Der Schmied riss einen Streifen ab und wickelte ihn um den blutenden Daumen, ohne den Blick von seinem Werkstück abzuwenden. „Wenn du keinen Teil deines Selbst dazugibst, Junge“, nuschelte er, während er das Ende des Streifens mit den zusammengepressten Lippen festhielt, „werden sich die Metalle nicht verbinden und deine Arbeit ist umsonst.“
Der Junge streckte die Hände aus, um dem Alten mit dem Knoten zu helfen, doch dieser schob ihn verächtlich beiseite. „Aber Meister“, fragte er, „wenn wir unser Blut hineingeben, wird das nicht die Mächtigen auf unsere Spur bringen?“
Zephyr lachte plötzlich und irr, so wie er es sonst nur tat, wenn er eine gesamte Flasche Hochgebrannten getrunken hatte. „Niemand hat gesagt, dass es kein Risiko gibt, Junge! Du musst nur schlauer sein als sie.“ Er packte die dampfende Klinge mit der Zange und wand den goldenen Stab darum.
Daren fragte sich bereits, welchen Sinn das ergeben sollte, da bemerkte er es: Obwohl es keinen natürlichen Grund dafür gab, zog sich das Gold zusammen, als wäre es eine Schlange aus den Fiebersümpfen und der Stahl seine Beute, die es zu erdrosseln suchte.
Zephyr nahm den Hammer, um die Kanten zu glätten, dann schob er das Ganze wieder in die Kohleesse. „So, Junge. Es ist Zeit, die Wanne zum Abschrecken fertig zu machen. Bring sie her!“
Daren nickte und lief in den hinteren Teil der Schmiede, um die Wanne hervorzuziehen. Mit einem Mal waren Müdigkeit und Erschöpfung von ihm abgefallen wie ein Umhang, den er von den Schultern gestreift hatte. So langsam aber sicher realisierte er, was sie im Begriff waren zu erschaffen. Das, was sein Meister dort schmiedete, war eine der sagenumwobenen Heldenklingen. Etwas, das Daren nur aus Legenden kannte. Aus blutigen Legenden, die in der Regel ein ebensolches Ende nahmen.
Während er die Wanne Eimer für Eimer mit Wasser füllte, beobachtete er seinen Meister. Vom heutigen Tag an würde er ihn mit einem anderen Blick sehen. Zephyr trug verborgenes Wissen in sich, das er niemals bei dem Alten vermutet hatte.
„Das reicht“, rief der Schmied irgendwann. „Hast du saubere Finger? Dann halte kurz das hier, damit ich es nicht in den Dreck werfen muss.“ Zephyr drückte seinem Schüler den Verband in die Hand und ging vor der Wanne in die Knie. „Manche meiner Mitstreiter haben mich dafür belächelt“, sagte er und es schien, als redete er mehr mit sich selbst, „aber ich bin der Meinung, dass man beim Abschrecken ebenfalls sein eigenes Blut dazugeben muss.“ Er ließ Tropfen aus dem Schnitt in die Wanne fallen. „Gut. Gib das Tuch zurück. Was siehst du jetzt?“
Daren trat so nahe an die Esse, dass es ihm beinahe die Augenbrauen versengte. Diesmal wollte er ganz sicher sein. „Der Stahl glüht bereits wieder. Wir müssen also aufpassen, dass er vor dem Härten nicht überhitzt.“
Er sah hinauf zu seinem Meister, der zustimmend nickte, während er sich den Verband wieder um den Daumen wickelte.
„Wenn wir ihn überhitzen“, fuhr Daren fort, „dann wird es beim Abschrecken Risse geben, und unsere ganze Arbeit wäre umsonst. Was mich aber verwundert, Meister, ist, dass das Gold nicht schmilzt. Den Glühfarben des Stahls nach, müsste das längst der Fall sein.“
In genau diesem Augenblick blitzte die goldene Spirale, die in die Klinge eingelassen war, plötzlich auf, verfärbte sich so rot wie das Blut seines Meisters, und verschlungene Schriftzeichen wurden sichtbar, so als hätte eine unsichtbare Hand sie hinein graviert. Daren taumelte vor Schreck zurück und stieß gegen den Amboss, wo er auf dem Hosenboden sitzen blieb.
Zephyr lachte. „Wenn du dir vor Angst in die Hosen scheißt, tu das lieber draußen. Ich brauche meinen letzten Rest Konzentration für das Abschrecken und diese Art von Geruch trägt nun wirklich nicht dazu bei.“
Daren rappelte sich auf, klopfte sich ab und kniff trotzig die Lippen aufeinander.
„So, Junge“, sagte der Alte und packte beherzt die Zange, „es ist soweit. Jetzt wird sich zeigen, ob die Anstrengungen der letzten Stunden es wert waren oder nicht.“
Daren runzelte die Stirn. Immerhin erkannte Zephyr an, dass ihre Arbeit anstrengend gewesen war. Oder sprach er nur über seine eigenen Schweißperlen?
„Zur Seite!“ Der Schmied hatte das Werkstück aus der Esse gezogen und stieß es senkrecht ins Wasser der Wanne hinab, so dass zischend Dampf in die Höhe fuhr.
Die Ohren gespitzt, lauschte Daren nach dem einzigen Geräusch, das er im Moment nicht zu hören wünschte, doch es kam nicht.
„Richtig, Daren“, sagte Zephyr. „Das Ausbleiben eines Knackens heißt schon einmal, dass uns das Schlimmste erspart geblieben ist.“ Der Schmied schwenkte die Klinge nochmals hin und her, dann zog er sie heraus. Irrte Daren, oder sah er Erleichterung auf dem Gesicht seines Meisters? Es war die zweite Emotion heute, die er dem Alten nicht zugetraut hätte.
Zephyr legte die Spitze auf dem Amboss ab, wendete die Klinge von einer Seite zur anderen und kniff ein Auge zusammen, während er den Rücken der Waffe entlang spähte. „Sie sieht gerade aus. Das ist gut. Wenn sie sich verzogen hätte, hätten wir sie begradigen müssen.“
Der Alte grinste sein bestes zahnloses Grinsen. Er sah zufrieden aus. „Jetzt müssen wir sie nur noch abschleifen und dann haben wir eine Klinge aus Sonnenstahl, die eines Champions würdig…“
Die hintere Wand der Schmiede brach mit einem Mal nach außen weg, so als wäre sie nicht aus massiven Steinblöcken gebaut. Das Dach sackte in sich zusammen und Daren fürchtete einen Augenblick, es würde auf sie herabstürzen, doch es hielt knirschend auf halbem Weg inne und überließ dem Staub, den ganzen Weg bis zum Boden zu nehmen.
Eine Fratze schälte sich aus den aufgewirbelten Schwaden hervor. Sie erinnerte entfernt an einen Adler mit Hörnern, zwischen denen eine goldene Sonnenscheibe prangte. Die Gestalt, gehüllt in ein rotgoldenes Federkleid und so hoch wie zwei Männer, stieg über die Mauerreste hinweg, sodass Trümmer unter den gespaltenen Hufen zu Staub zerbröselten. Der Dämon beugte sich herab und griff nach einem Dachbalken, um den gesamten Dachstuhl wie einen Truhendeckel aufzuklappen.
Daren hechtete unter eine Werkbank. Er kannte nur noch einen Gedanken: davonzulaufen und sich im Halbdunkel zu verstecken.
Zephyr schien anderes im Sinne zu haben. Der Schmied schrie zornig auf, richtete die Klinge auf den Dämon und brüllte Worte in einer Sprache, die Daren nicht verstand.
Helligkeit glomm an der Spitze der unfertigen Waffe auf, dann schoss ein Strahl aus purem Licht daraus hervor und auf die riesenhafte Gestalt zu.
Daren riss den Arm vor die Augen und war dennoch geblendet, so gleißend hell war die Lanze aus Licht, die durch die zerstörte Schmiede fuhr. Holz und Stroh, das sie auf ihrem Weg traf, ging ansatzlos in Flammen auf, während Stein zerbarst und Metall die ersten Glühfarben zeigte. Dann schwenkte sie herum und traf den Dämon. Dort wo das Licht über das rotgoldene Gefieder strich, plusterte es sich auf, schwoll zu einem Knistern und Flimmern an, das den ganzen Raum einnahm. Ein metallenes Klingen, so als hätte jemand mit voller Wucht auf den Amboss geschlagen, wurde lauter und lauter. Kein Zweifel, dies war niemand anders als Ergremon persönlich. Und ihn hielt das alles nicht einmal auf.
Der Dämon glitt zwei weitere Schritte voran, erreichte Zephyr und biss ihm ansatzlos den Kopf von den Schultern.
Das Licht erlosch von einem Wimpernschlag zum nächsten. Der kopflose Körper des Alten taumelte noch ein oder zwei Herzschläge, dann kippte er hintenüber und spuckte eine Lache voll Blut auf den Lehmboden.
„Sterblicher Wurm“, knurrte Ergremon aus den Tiefen seiner Kehle, „wie kannst du es wagen, mir mein Gold zu stehlen? Wenigstens warst du dumm genug, mein eigenes Metall gegen mich richten zu wollen!“
Er bückte sich und wand dem Toten die unfertige Waffe aus den Fingern. „Doch deine Arbeit soll nicht umsonst gewesen sein. Sie soll meiner Armee dienen und die Waagschale zu meinen Gunsten neigen.“
Als er sich wieder aufrichtete, fiel der Blick des Dämons auf Daren. Der Junge vergaß für einen Augenblick fast zu atmen und presste sich tiefer in die Schatten. „Sieh an“, grollte Ergremon, „Frischfleisch für die Minen. Ihr Menschen seid so zerbrechlich.“
Die Pranke des Dämons fuhr vor und packte den Jungen am Knöchel. Daren wollte schreien, doch der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Er wurde hervorgezerrt und in die Höhe gerissen, bis er kopfüber baumelnd vor der Fratze des Dämons zum Halten kam.
Ergremon starrte ihn mit seinen goldenen Knopfaugen an und sein Atem brannte wie Feuer in Darens Gesicht, als er sprach. „Vielleicht aber auch in die Schmieden. Mein gefräßiger Heerwurm hat immer Hunger auf Stahl. Auch wenn der Alte verrückt war, es muss einen Grund geben, warum er dich aufgenommen hat.“
Daren konnte kaum atmen, so sehr biss der scharfe Geruch des Dämons in seiner Kehle. Stattdessen starrte er mit aufgerissenen Augen in Ergremons Fratze und hoffte still, nicht der nächste Tote in diesem Raum zu werden.
Der Dämon drehte ihm nicht den Hals um. Er schlitzte ihm auch nicht den Brustkorb auf. Er lachte, ein schrecklicher, grollender Laut wie ein fernes Gewitter. Dann warf er sich den Jungen einem Reisebündel gleich über die Schulter, stieg über die Mauerreste und stapfte hinaus in den Sumpf.

Plotturn und Plottwist

Jede*r von uns kennt das: Man verfolgt die Geschichte eines Buchs, eines Films, eines Games, und glaubt, vorhersehen zu können, was als nächstes passiert – als plötzlich die Geschehnisse eine Wendung nehmen, die man auf keinen Fall erwartet hat. Wenn man ehrlich ist, dann sind solche Augenblicke doch das Salz in der Suppe. Das, auf was man gewartet hat. Das, was einem den besonderen Genuss beim Konsum dieser Geschichte bereitet.

Was aber, wenn diese Wendung vorhersehbar ist? Wenn sie langweilig ist, weil man sie erwartet hat und nicht mehr davon überrascht wird? Dann verliert dieser Augenblick einen Großteil seines Reizes oder verkehrt sich sogar ins Gegenteil.

Ich persönlich würde zwei Arten solcher Wendungen unterscheiden: Plotturn und Plottwist.

Viele mögen sich fragen, ob es dort überhaupt einen Unterschied gibt, für mich gibt es ihn, und ich habe immer versucht, diese beiden Begriffe zu verwenden, um sie zu trennen.

Plottwist

Hierunter würde ich die klassische Umkehrung eines Story-Elements verstehen. Den Moment, den die meisten vor ihrem inneren Auge sehen, wenn sie den Begriff Wendung hören. Der Moment, in dem sich herausstellt, dass eine Annahme, die man als Rezipient der Geschichte getroffen hat, nicht wahr ist.

Einige Klassiker, die unterschiedlich tief in die Geschichte eingreifen, je nachdem wie viel Prozent der Geschichte sie betreffen:

  • Eine Person ist nicht, was sie scheint: Die Guten sind die Bösen oder umgekehrt. Der Mentor der Heldin ist in Wahrheit der Kriegsgott, den es zu bekämpfen gilt. Der liebe Onkel in Wahrheit der Schurke. Und der Bösewicht will in Wahrheit die Welt retten.
  • Der Agent nimmt seine Gummimaske ab und es wird klar, dass es eine List war und man die letzten fünf Minuten des Films mit ganz anderen Augen sehen muss.
  • Die Heldin lässt sich von den Bösen gefangen nehmen, weil sie die gesamte Menschheit mit ihrer „Magie“ miterleben lassen kann, wie sie gefoltert und getötet wird – wodurch klar wird, dass es die Bösen sind (was sie vorher erfolgreich versteckt haben).
  • Der Held hat für die falsche Seite gearbeitet: Er erobert einen magischen Dolch aus einer feindlichen Stadt, nur um zu erkennen, dass seine Auftraggeber, noch Schlimmeres damit vorhaben. Jetzt muss er es zurückdrehen.
  • Der Protagonist und Erzähler ist der Mörder (und hat einen Rezipienten als „Untreuer Erzähler“ aufs Glatteis geführt)! Und im Übrigen ist das Mordwerkzeug ein gläserner Dolch, der die ganze Zeit im Aquarium des Herrenhauses geschlummert hat.

Plotturn

Im Gegenzug dazu ist dieses Werkzeug weniger radikal. Es verändert nicht zwingend, was bereits geschehen ist. Es lässt vielmehr die Geschichte in eine unerwartete Richtung abbiegen. Je nachdem, wie scharf dieser Richtungswechsel ausgeführt wird, bekommen es manche Rezipienten vielleicht nicht einmal mit.

Auch hier wieder einige Klassiker, die illustrieren sollen, wie unterschiedlich und auf welchen Ebenen sie ausfallen können:

  • Die Geschichte beginnt in einem geschlossenen Raum (Kloster, Schule, …) und spielt dort relative lange (mit all den dort entstehbaren Problemen und Plothooks), ehe sie plötzlich und restlos daraus ausbricht und in die freie Welt führt (mit völlig anderen Problemen und Plothooks), wo sie bis zu ihrem Ende verbleibt.
  • Das Genre oder der Plot sind nicht, was sie zu sein scheinen. Es beginnt als klassischer Mordfall und entwickelt sich plötzlich zum Melodram. Anfangs geht es um die Freundschaft zwischen zwei Charakteren, später um knallharte Wirtschaftskriminalität. Die Schatzsuche der Archäologin entwickelt sich zum Vampir-Splatter. Die Zombies sind nicht wichtig in der Story, sondern nur Kulisse für einen Politthriller.
  • Schauplatzwechsel: Es folgt ein unerwarteter Aufbruch ins ewige Eis, an Bord eines Schiffes, in die Tiefen einer Höhle, vom Dschungel in die Stadt oder umgekehrt. Oft verknüpft mit: „Rettet den McGuffin!“
  • Es tauchen unerwartete Figuren auf. Aliens kommen vom Himmel, der totgeglaubte Erbonkel oder der unnahbare Kaiser treten in der tiefsten Provinz auf den Plan und verändern dadurch die Motivation und Ziele der Haupt- und Nebenfiguren. Im Leben der Protagonistin erscheint eine neue Liebe, der verlorene Sohn kehrt zurück.

Es gibt also aus meiner Sicht einen systematischen Unterschied zwischen diesen beiden Werkzeugen: Beim ersten wird etwas Bestehendes verdreht (deshalb Twist), beim zweiten etwas Unerwartetes ergänzt (deshalb Turn).

Und warum jetzt diese Trennung?

Unser Hauptproblem als Autor oder SL sind leider wieder einmal Konventionen. Die meisten von uns sind durch den Konsum von hunderten und tausenden von Geschichten darauf geeicht, mindestens einen Plottwist zu erwarten. Häufig ist es bereits so, dass dir im Kino deine Sitznachbar*in sogar vorhersagen kann, wie genau der Plottwist ausfallen wird. Denn schließlich muss dieser dramaturgisch vorbereitet werden – Kundige erkennen diese Zeichen und ziehen ihre Schlüsse.

Im Gegenzug dazu ist der Plotturn nicht ganz so leicht zu erraten (was in der Natur der Sache liegt), birgt aber eine andere Gefahr. Denn biege ich damit zu scharf ab, verliere ich vielleicht meine Rezipienten durch die Fliehkräfte in der Geschichte. Ob und wie gefesselt man einer Story folgt, hängt häufig damit zusammen, wie sehr es dieser gelingt, einen emotional zu involvieren. Ein Plotturn kann den einen noch mehr an mich binden, die andere wird durch den zu scharfen Richtungswechsel von Bord geschleudert.

Wenn man mich nach meinem ganz persönlichen Geschmack fragt, würde ich sagen, dass ich gut gemachte Plotturns mehr genieße, als die oft überstrapazierten Plottwists. Denn die Überraschungswahrscheinlichkeit beim Ersteren ist höher als beim Zweiten. Auf jeden Fall finde ich es wert, beim Verfassen einer Geschichte (ob als SL oder als Autor) kurz innezuhalten und die Entscheidung für das eine oder andere bewusst zu treffen.

Wie ist das bei euch? Welches begeistert euch mehr? Gibt es Beispiele für das eine oder andere, die zu euren Favorites zählen? Ich wäre gespannt.

Khom – Märchen (Teil 3)

Wenn du als SL versuchst, eine immersive Welt zu erschaffen, gelingt das mal mehr, mal weniger gut. Manchmal gelingt es sogar so gut, dass es dich selbst überrascht, weil deine Spieler*innen innerweltliche Werkzeuge für Zwecke nutzen, mit denen du als SL niemals gerechnet hättest.

So erging es mir beim Thema Märchen – namentlich der Legende von Rashid. Ist es also nicht genau das, was ich erreichen wollte? Äh… jein. grgl… Mal wieder ein typischer Fall von „Geister, die ich rief“. Welche SL kennt das nicht? 😉

Karneval der RSP-Blogs: Von Nichts kommt Nichts

März 2021 – die große Lethargie? Weit gefehlt, denn endlich bringt der RSP-Karneval eines meiner liebsten Themen auf die Agenda: Kreativitätsmethodik. Danke, Merimac! 😉

Eine der wichtigsten Lektionen, die ich beim Abenteuergestalten (und damit übrigens genauso beim Kurzgeschichten, Novellen, Romane schreiben) gelernt habe, lautet: „Von Nichts kommt Nichts“. Warum? Das liegt offenbar daran, wie unser Gehirn funktioniert. Neues wird nicht einfach so heureka-mäßig aus dem Nichts geboren, sondern entsteht immer durch die Verknüpfung von Synapsen, d.h. die Verknüpfung von Informationen. Es findet immer eine Re-Kombination und Re-Modulierung von Bausteinen statt, die dann als Ergebnis etwas Neues, etwas Anderes, ergeben.

Achim Pi-Halbe hat das vor Jahren einmal sehr schön in einem seiner Podcasts erklärt: Creative Constraint.

Im Grunde ist eine der gängigsten Methoden, wie die meisten von uns auf Abenteuerideen kommen, diese: Man geht so seines Weges und plötzlich springt einen unverhofft die sogenannte Grundidee für ein neues Abenteuer an, weil man von einer Quelle (Buch, Film, Bild, Realität, …) inspiriert worden ist. Das kann alles mögliche sein: Ein NSC, eine coole, cineastische Szene, ein Mysterium, ein origineller Criminal Case, ein bombastischer Schauplatz.

Bäm! Der Grundstein ist gelegt. Und jetzt nur noch… äh… ja, also… Denn das ist bei den meisten das Problem. Der Enthusiast in einem wird plötzlich kleinlaut, die Kreativität versiegt, es ist Schluss mit lustig. Man kommt nicht weiter (oder noch hundsgemeiner: gar nicht erst hin, zu der tollen Szene, die man sich erträumt hat).

In solch einem Fall hilft es mir persönlich oft, einen Schritt zurückzutreten und weitere Inspirationsquellen und verschiedene Blickwinkel zu suchen, die mir ermöglichen, weitere Bausteine zu gebären, die ich an diese Grundidee anbauen kann. Creative Constraint.

Ich persönlich brauche dazu nicht mehr als ein Blatt Papier und einen Bleistift. Klassisches Mindmapping. Personen, Orte, Dinge, werden miteinander logisch vernküpft, und potentielle Verbindungen, Konflikte, Sinnzusammenhänge daraus abgeleitet. Ist eine mögliche Methode, die für mich funktioniert – jede(r) Spielleiter*in muss hier den eigenen Weg finden.

Und wo finde ich weitere Constraints?

Das ist eine durchaus berechtigte Frage. Ich versuche immer, verschiedenartige zu finden, um die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln sehen zu können. D.h. ich beschränke mich abwechselnd ganz bewusst ausschließlich auf einen der folgenden:

  • Setting, Schauplätze
  • Personen, Motive, Beziehungen dazwischen
  • Grundplots, sowie Variationen und Twists

Ein recht klassicher Dreiklang aus Ort/Zeit, Person und Handlung, wie man es ähnlich in diversen Quellen zu Dramen- und Romantheorie finden kann (dort wird z. B. eine Szene als Einheit von Ort, Zeit und Personen gefasst). Man kann das in seinem Mindmap unterschiedlich grafisch darstellen, muss aber nicht.

Sehen wir uns zunächst also einmal Settings anhand eines Beispiels an. Nehmen wir an, dass ich als Grundidee hatte, meine Spieler*innen in ein märchenhaftes Feen-Setting zu entführen, zu dem mich die derzeitige Lieblingsfernsehserie meiner Kinder inspiriert hat (schon gut, schon gut, ihr fairy-hater, dieses Beispiel habe ich mit Absicht so gewählt, weil es sehr spezifisch und klischeehaft ist und ich an dieser extremen Ausprägung klarer zeigen kann, was ich meine. Für alle, deren Kinder auch in der Feen-Phase sind: Wartet ab, bis sie in der Vampirphase ankommen und blickt dankbar zurück ;-P).

Ab jetzt gilt es, Setting-Constraints zu finden.

Ein Klassiker ist Wikipedia, meinetwegen auch die Wiki zu einem Regelsystem oder einem RPG-Setting, wenn man sich mit seinem Plot darin bewegen will und diesen Luxus hat. Viele dieser Wikis besitzen eine Zufallsfunktion, die ich einige Mal nutzen kann, bis ich jeweils auf Orte, Schauplätze etc. gelange. Wichtig ist, sich hier nicht gleich zu Beginn zu beschränken, sondern zunächst eher zu viele, als zu wenige Constraints zu finden. Es gibt keine falschen Ideenquellen, nur diejenigen, die im Augenblick von deinem Gehirn re-kombiniert werden können und jene, die ungenutzt liegenbleiben.

Zudem nutze ich gerne Büchereien 😉 – was sich in der Nach-Corona-Zeit hoffentlich bald wieder etwas besser umsetzen lässt. Denn dort kann ich Bildbände, Sachbücher, Zeitschriften finden, die großartige, inspirierende Fotos enthalten.

Meine Beispielsuche lieferte:

  • Endlichhofen, eine Ortsgemeinde im Taunus
  • Pulsphasenmodulation, eine Möglichkeit zur Nachrichtenübertragung
  • (1163) Saga, einen Asteroid
  • James Mellaart, einen britischen Prähistoriker
  • Crystal Palace, einen englischen Fußballverein
  • Posta, eine italienische Gemeinde, die im erdbebengefährdeten Teil der Abruzzen liegt
  • Helmut J. Psotta, einen deutschen Aktionskünstler und Kunstpädagogen
  • Philcoxia minensis, ein brasilianisches Wegerichgewächs, von dem man recht kürzlich erkannte, dass es fleischfressend ist
  • Carlo Pavesi, einen italienischen Fechter und Olympiasieger
  • Saurer DM, einen zweiachsigen allradgetriebenen Lastwagen

Vielleicht hast du gemerkt, dass dir beim Lesen der Liste bei einigen Punkten sofort eine Assoziation in den Kopf geschossen ist, bei anderen nicht. Das ist genau das, was wir uns wünschen. Welche das sind, das hängt davon ab, was du in deinem Leben bis zu diesem Moment erlebt und gesehen hast, was also an Informationen in deinem Gehirn irgendwo bereits vorhanden ist.

In meinem Fall inspirierten mich folgende:

  • Endlichhofen und Posta: Mein Abenteuer soll in der Gegend eines Dorfs am Rande eines Gebirges spielen, das immer wieder von Erdbeben erschüttert wird. Diese Erdbeben legen regelmäßig uralte Stätten und Artefakte frei, die Mysterien in sich tragen
  • Pulsphasenmodulation: In meinem Abenteuer soll eine abgefahrene Nachrichtenübertragungsweise eine Rolle im Plot spielen. Da es sich um ein Feensetting handelt, könnte diese Nachrichtenübertragung von einer bestimmten (vielleicht fleischfressenden?) Pflanzensorte übernommen werden
  • James Mellaart und Helmut J. Psotta: In meinem Abenteuer soll es einen Kunsthistoriker geben, der Ausgrabungen in dem Gebirge unternimmt, wo von Erdbeben freigelegte Ruinen untersucht werden

Wie man erkennt, habe ich im Vorbeigehen bereits eine erste Verknüpfung zwischen den gewählten Constraints geschaffen – je mehr Constraints man verknüpft, desto tragfähiger wird die Geschichte.

Der Fußballverein, der Fechter, der Asteroid und der Lastwagen ließen mich übrigens bisher kalt – kein Problem, lasse ich sie also einfach erst einmal liegen, vielleicht kitzeln sie mich im späteren Verlauf noch. Und wenn sie bis zum Schluss ungenutzt liegenbleiben, ist das auch ok.

Kommen wir nun zu Personen-Constraints.

In der Fernsehserie meiner Töchter geht es um eine Dreiecks-Beziehung, also will ich genau das ebenfalls in meinem Abenteuer eine Rolle spielen lassen.

  • Den Ausgrabungsleiter habe ich bereits. Ein Fantasy Name Generator liefert mir den Namen Bogwynn Faenhard. Brauche ich also nur noch die anderen beiden Spitzen des Dreiecks.
  • Wie wäre es mit einer Tochter? Melissa Faenhard, ihres Zeichens Botanik-Ingenieurin, die sich mit Nachrichtenübertragung mittels gezüchteten Riesen-Wegerich-Pflanzen beschäftigt, liebt ihren Vater abgöttisch, ist aber immer wieder eifersüchtig auf ihre neue Stiefmutter.
  • Diese neue Stiefmutter ist Abyness Noewen, und ihres Zeichens ebenfalls Archeologin, wo sie auch Bogwynn kennengelernt hat. Die eifersüchtige Stieftochter Melissa vermutet selbstredend, dass Abyness sich nur an ihren Vater herangemacht hat, um mit auf diese Ausgrabung zu dürfen – vielleicht verbirgt die Stiefmutter sogar ein dunkles Geheimnis um ihre eigene Existenz und gibt vor zu sein, was sie gar nicht ist?

Auch hier sieht man wieder, dass ich versucht habe, Verknüpfungen zwischen den Personen und den Setting Constraints zu schaffen – das wird im weiteren immer und immer wieder mein wichtigstes Ziel werden. Ich will ja aus Nichts Etwas erschaffen, und jedes Etwas, das mir als Baustein auf dieser Reise begegnet, hilft mir, ein neues Etwas als weiteren Baustein oben draufzusetzen. Oder wenn man in dem Bild mit den Verknüpfungen bleiben will: Das Ziel ist ein dichtes Spinnennetz, und je mehr meiner klebrigen Fäden ich verknüpfe, desto einfacher wird es, weitere Fäden an existierende zu knüpfen und desto dichter wird das Netz.

Würde ich eine Kurzgeschichte schreiben, wäre ich mit diesen Personen erst einmal notdürftig versorgt und würde im Laufe des weiteren Brainstormings weitere Nebenfiguren ergänzen, wenn ich sie im Plot benötige. Wir erschaffen an dieser Stelle aber keine Kurzgeschichte. Wir erstellen ein Rollenspielabenteuer. Die wichtigsten Personen fehlen also noch: meine SCs.

Kernfrage ist demnach: Wie bringe ich meine SCs ins Spiel?

Da ich in diesem Beispiel davon ausgehe, dass dieses Feen-Setting für meine Gruppe völlig neu ist, und es keine existierenden Charaktere gibt, rechne ich eher mit einer wild zusammengewürfelten Truppe aus verschiedenen Feenartigen, Biestingern, Tiermenschen, eventuell Koboldartigen usw. Deshalb entscheide ich mich für einen Klassiker, der die Klammer für mein Abenteuer bildet: Die SCs werden angeheuert, um die Botanikerin Melissa Faenhard in die unwirtlichen Berge zu begleiten, wo sie die abgebrochenen Nachrichtenübertragungen untersuchen soll. Klassischer Bodyguard-Plot, der von der Suspense lebt, wer oder was denn nun die Nachrichtenübertragungswege ge- bzw. zerstört hat – und wann dieses Etwas zuschlägt, harrharr.

Damit blieben zuletzt die Plot-Constraints:

Für Constraints bieten sich auch hier viele Möglichkeiten. Eine sehr, sehr nützliche verdanke ich Steffen von 3w20: Die große Liste der Rollenspielplots

Die einfachste Möglichkeit wäre nun, sich denjenigen Plot herauszusuchen, der zu den bisherigen Ergebnissen des Brainstormings passt. In unserem Fall wäre das vielleicht „Ein sicherer Hafen“, „Expedition“, „Geleitschutz“ (die SCs und die Botanikerin Melissa erforschen die unwirtliche Gegend und stoßen dabei auf das riesige Tier, das die Pflanzen zerstört hat, weshalb sie flüchten müssen), „Schatzsuche“, „Ruinen“ (die SCs und Melissa stoßen rein zufällig auf die Ausgrabungsstätte und helfen, das Mysterium der Vergangenheit zu heben / damit fertig zu werden).

Mein Ansatz (wer hätte es nach zwei Seiten Wall-of-Text nicht erraten? ;-)) ist immer, möglichst viele verschiedene Strömungen von Plotmöglichkeiten miteinander zu verknüpfen, die mein Abenteuer nicht eindimensional werden lassen. Dabei kann man gerne auch per Zufall eine oder mehrere wählen, die auf den ersten Blick nicht zu passen scheinen.

Wie wäre es zum Beispiel mit:

  • „Büchse der Pandora“: Das Tier ist durch Ausgrabungen entfesselt worden und Teil des Mysteriums. Die böse Stiefmutter (relax, fairy-haters) Abyness hatte es von Anfang darauf abgesehen, es zu erwecken, um die Feenkönigin (ihre geheime Schwester) zu stürzen.
  • „Gestrandet“: Bei der Flucht stoßen die SCs und Melissa auf die Ausgrabungsstätte. Dort eingesperrt (draußen lauert das Tier, kann aber nicht hinein, weil das Mysterium es zurückhält) muss man sich mit den Spannungen der Dreiecksbeziehung auseinandersetzen. Wie soll man sich dabei darauf konzentrieren, einen Hilferuf abzusetzen?
  • „Safari“: Eine konkurrierende Gruppe will das Tier fangen und die SCs und Melissa müssen entscheiden, ob sie das verhindern wollen. Und wenn ja: wie lockt man ein Tier, das einen töten kann, von seinen Jägern weg?
  • „Unruhestifter“: Es ist gar kein Tier, sondern einige Unruhestifter, die die Nachrichtenwege gestört haben. Warum nur? Vielleicht wollten sie nur die Kommunikation mit der Ausgrabungsstätte blockieren, um dort selbst ihre Agenda zu verfolgen?

In diesem Stadium habe ich also eine ganze Menge möglicher Versatzstücke, die ich nur noch zusammensetzen muss, in der Hoffnung, einige interessante und/oder überraschende Plotturns oder Plottwists für meine Spieler*innen zu finden.

Ich setze das ganze für mich einmal beispielhaft zu einem groben Fahrplan (mit einer recht geringen, nicht vollständig ausgereizten Komplexität, aber es geht ja um’s Prinzip) zusammen:

  1. Exposition. Die SCs werden von Melissa angeheuert. Man bricht ins Gebirge auf. Zeit für Einführung der märchen- und zauberhaften Landschaft und Andeutungen über Melissas Familiengeschichte.
  2. Suspense. Erste Funde der zerstörten Pflanzen. Langsamer Aufbau der Spannungskurve, erste nächtliche Ruhestörungen, evtl. ein unvollständiger Blick auf das Tier.
  3. Eskalation. Ein schwer verletzter SC, entweder auf der Flucht vor oder beim Kampf mit dem Tier.
  4. Etappenziel. Ankunft im „Sicheren Hafen“, den das Tier aus unerfindlichem Grund nicht betreten kann. Kennenlernen von Bogwynn und Abyness.
  5. Eskalation. Eifersuchtsdrama Melissa und Abyness. Die SCs dürfen beginnen, einen Verdacht gegenüber der bösen Stiefmutter zu hegen, da diese sich zunehmend verdächtig verhält.
  6. Zuspitzung „Sicherer Hafen“. Arbeiter von der Ausgrabungsstätte verschwinden. Nahrung wird gestohlen und deshalb knapp. SCs werden durch den zunehmenden Druck an allen Fronten zum Handeln gezwungen.
  7. Auflösung. Es gelingt (mit Bogwynns Hilfe?) das Mysterium zu lüften, aufzuklären, ob und welche Rolle Abyness darin spielt und wie man das Tier besänftigen / aufhalten kann.

Von diesem Punkt des Kreativitätsprozesses an kann man sich voll auf das Lokalkolorit stürzen, Gesichter und Charakterzüge für seine NSCs finden, oder damit beschäftigen, wie man die Regelmechanik an wichtigen Stellen am besten zum Glänzen bringt. Aber das ist eine andere Geschichte für einen anderen Tag…

Bleibt mir die Feststellung, dass es mir hoffentlich gelungen ist, quasi aus dem Nichts Etwas zu schaffen, indem ich dem initialen Nichts ein initiales Etwas hinzugefügt habe, was streng genommen eigentlich eine Themenverfehlung im Sinne von Merimacs Aufgabenstellung ist. Aber das soll Jede(r) von euch da draußen selbst bewerten. Denn von Nichts kommt nun einmal Nichts. 😉

PS: Wer mag, kann versuchen, zurückzugehen und herauszufinden, was mit dieser Geschichte passiert, wenn man sich stattdessen auf die Constraints Asteroid, Fussballverein, Fechtolympiasieger und Lastwagen stürzt. 😉 Ich wäre gespannt.

#egoismismurder

Manchmal kann ich verstehen, warum die Menschen zu anderen Zeiten dachten, Inspiration wäre etwas Göttliches, das über einen kommt, ohne dass man etwas dafür kann. Dass es keine harte Arbeit ist. Manchmal. So auch hier.

Die Kurzgeschichte #egoismismurder ist mir an einem Sonntagmorgen im März während eines Longjogs quasi blitzlichtartig in den Sinn gekommen und bis zum Mittagessen ohne einen einzigen Abriss aus der Feder geflossen. Sie war einfach da, als hätte sie sich selbst geschrieben und mir nur mitgeteilt (was natürlich Quatsch ist, denn sie ist in Wahrheit das Produkt einiger unbewusster Denkvorgänge in der Anfangs-Corona-Zeit).

Seltsam, wie unser Gehirn manchmal arbeitet, nicht wahr?

Story Now

Es gibt sicher eine Million Gründe zu schreiben. Meiner ist schlicht: Story Now!

Wieso „Now“?

Der Begriff stammt aus der Rollenspieltheorie und bezeichnet eine bestimmte Spiel- und Erzählweise, die ohne Determinismus auskommt, oft sogar ohne Spielleiter. Die Story entsteht hier und jetzt. Am Tisch. Aus dem, was in diesem Augenblick aus dem Mund eines Spielers flutscht.
Ja, richtig. Das kann alles Mögliche sein. Und meist habe ich vorab keine Ahnung davon, was es sein wird. Keiner am Tisch.

Das Gegenstück dazu, das sich dadurch auszeichnet, dass jemand (ein Autor / Spielleiter) sich eine Geschichte ausdenkt, die dann (mal mehr, mal weniger) strikt am Tisch nacherzählt wird, kann man gerne Story Before oder Story After nennen, abhängig davon, wie gehässig man veranlagt ist.
Hier gibt es einen feinen Unterschied: Die meisten wissen nicht, was als nächstes passieren wird. Einer schon – nämlich der Spielleiter (der in manchen Fällen auch gleichzeitig der Autor ist, je nachdem, ob man zu gekauften Abenteuern neigt).

Was hat das mit Schreiben zu tun?

Im ersten Schritt gar nichts. Im zweiten schon.

In der Schreibtheorie unterscheidet man zwischen planenden Autoren („Outlinern“) und entdeckenden Schreibern („Discovery Writern“). Niemand ist beides zu einhundert Prozent. Es sind Archetypen, zu denen jeder Autor in der ein oder anderen Situation seines kreativen Prozesses tendiert.

Ich bin ebenfalls beides. Es gibt jedoch in meinem Schreibprozess diese Momente, für die ich wirklich schreibe. Die den Grund ausmachen, warum ich es tue. Wenn ich ganz in den Worten versinke, die aus mir heraussprudeln, mich die Geschichte mitreißt und ich mich frage: Hab das wirklich ich geschrieben? Wenn ich mit meinen eigenen Figuren mitfühle, mit ihnen leide oder mich freue. Wenn ich ihnen nachempfinden und ihr Schicksal gespannt verfolgen darf.

Wo ich vorab keine Ahnung habe, was als nächstes passiert.

Die Augenblicke, wo die Geschichte für mich als Autor entsteht – Story Now.

PS: Natürlich verliert ein Profi nie die Kontrolle über seine Protagonisten. Aber empfindet er gleichwertig mit ihnen? Erlebt er dasselbe Glücksgefühl? Oder gleicht er mehr einem Lageristen, der Posten auf einer Liste abhakt?